Von Gesine Hirtler-Rieger
Die Schwellenangst vor dem Betreten eines Museums kennen wir alle: Kapiere ich, was da ausgestellt wird? Was tun, wenn ich mit schwarzen Kringeln auf weißen Leinwänden nichts anfangen kann? Manches missfällt uns (und wir scheuen die Mühe, die Erklärung zu lesen). Anderes zieht uns an. Und immer hat dies etwas mit dem je eigenen Leben zu tun. Über Kunst nachzudenken heißt auch, über sein Leben nachzudenken. Ein wunderbarer Stoff zum Schreiben!
Kunst offenbart Ängste
Im Sommer 2014 schlendere ich mit zwei Freundinnen durch das Amsterdamer Rijksmuseum und wundere mich über gelbe DIN A4- Zettel, die neben ausgesuchten Gemälden und Skulpturen kleben. Sie wirken wie übergroße Post-ist, und so sind sie auch gedacht. Neben einer aus Stein gehauenen Marienfigur, die das Jesuskind liebevoll auf dem Arm trägt, hängt so ein Post-it. Darauf steht in Englisch: „Ich fürchte mich, als kleiner Schwächling und Muttersöhnchen rüberzukommen.“
Überrascht suchen wir andere Post-its und stellen fest, dass die Aussagen sich immer auf heutige Denkmuster beziehen: „Ich kann das ganze Konsumdenken nicht ausstehen“, steht auf dem Post-ist neben einem üppigen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert, auf dem Orangen hervorleuchten, pralle Trauben, Pfirsiche und ein orange leuchtender Hummer.
Kunst lehrt uns Staunen
Erwischt, denke ich, und lese die Erklärung von Alain de Botton im Katalog dazu. Sinngemäß sagt dieser: Um all dies zu produzieren, was auf dem Bild dargestellt ist, mussten damals Sümpfe getrocknet, Dung und Vieh durch den Winter gebracht werden, mussten Zitronen auf Eseln von den Bergen zum Hafen gebracht und in Schiffe verladen werden. Der Bildbetrachter der ersten Stunde wusste, wie schwierig dies alles war und staunte, dass Menschen überhaupt fähig dazu sind. Wir Heutigen tun uns mit dem Staunen schwerer und brauchen Post-its.
Impulse zum Schreiben
Kunst will uns anregen, dieses Angebot dürfen wir annehmen. Ich gehe manchmal mit meinen Schreibgruppen ins Museum oder besuche nach Absprache eine Galerie mit ihnen. Jede darf sich ein Gemälde, eine Skulptur oder ein Objekt suchen und sich 15 Minuten Zeit zum Betrachten nehmen. Hier verwende ich gerne zwei Impulse:
- Kreative Variante: Denk dich in das Gemälde hinein. Was ist hinter den Bergen, wohin schaut der Mann, über was grübelt er wohl? Welche Überraschungen entpuppen sich jenseits des Rahmens, wenn man sich in das Bild hineindenkt?
- Biografische Variante: Was genau stupst mich bei diesem Bild an? Welche Assoziationen und Erinnerungen tauchen auf – an Orte, Menschen, Landschaften? Wo führt es mich hin?
Spannend ist auch diese Anregung: Suche ein Kunstwerk, das dir NICHT gefällt. Nimm Stift und Papier und beschreibe es detailliert. Dann versuche herauszufinden, was genau dich daran stört. Vielleicht führt es dich zu einem lange nicht mehr besuchten Ort. Ob Freewriting, Elfchen oder Haiku: Halte deine Gedanken fest und tausche dich mit anderen aus, was sie sehen. Wir ernten in solchen Runden eine Fülle an Wahrnehmungen. Und jede einzelne bereichert uns.
Gesine Hirtler-Rieger (Kontakt mail: gesine.hirtler-rieger@lebensmutig.de
Eine Antwort
Liebe Frau Hirtler-Rieger,
herzlichen Dank für diesen schönen Beitrag.
Kunstwerke können uns auch anregen, die autobiografischen Geschichten und Selbstauskünfte, an die wir uns vielleicht schon zu sehr gewöhnt haben, etwas aufzubrechen. Sie eröffnen neue Sichtweisen und Perspektiven. Zufällig habe ich für den Herbst gerade einen Schreibworkshop geplant, in dem ich genau dieses Potential nutzen möchte. Ich habe das Glück, dass sich zwei Museen in Laufnähe meines Biografiestudios befinden, daher kam die Idee … und ihr Beitrag ermutigt mich noch einmal dazu.