„Maman“ von Sylvie Schenk

„Auf dem Buchcover steht zwar „Roman“, ich würde “Maman” aber als Biofiktion bezeichnen. Die Autorin selbst sagt von ihrem Annäherungsversuch an ihre Mutter Renée, es sei ein „approximativer Text“ (S. 9). Grundlage des Buchs sind die spärlichen Aktennotizen zu ihrer Mutter, die Lücken füllt Schenk mit imaginierter Handlung. Von Anfang an mischt sie sich quasi in das Geschehen, fühlt sich glaubhaft in die Person und Gefühlswelt ihrer Mutter ein: „Ich […] schlüpfe in Mamas Leben“ (S. 147). Ganze sechs Kapitel widmet sie ihrer unbekannten Großmutter Cécile, die wenige Stunden nach der Geburt Renées im Dezember 1917 stirbt.

Zunächst bleibt das Kind im Waisenheim, bis es im Alter von sieben Monaten auf einen Pflegeplatz vermittelt wird. Die Bauersleute sind arm, die Aufnahme des Säuglings geschieht nicht aus sozialen, sondern aus monetären Motiven. Mit knapp sechs Jahren holt sie das kinderlose Ehepaar Legrende von dort weg – doch da hat die Seele des kleinen Mädchens schon Schaden genommen: Es spricht kaum, ist verschlossen, träge, kann keine besonderen Interessen und Talente entwickeln. Ihre Adoptivmutter zeigt jedoch Geduld und schenkt Renée ihre ganze Liebe. Wenig begabt, wird sie von ihren Klassenkameradinnen gehänselt und ausgegrenzt, eine Freundin findet sie nicht. Die Zuschreibung, eine Idiotin zu sein, brennt sich ihr ein.
„Sie möchte etwas über sich erfahren, aber sie traut sich nicht zu fragen. Sie fragt auch sich selbst nichts Richtiges, oder stellt sich nur verfilzte Fragen, die noch vor dem Fragezeichen zerfallen.“ (S. 80) So bleibt die wahre Herkunft für ihre Kinder und für Renée selbst bis zu ihrem Tod ein Geheimnis, dem erst die Schwester der Autorin durch Recherchen auf den Grund geht.
Die Eheschließung Renées mit einem Zahnarzt scheitert beinahe am Entsetzen der Schwiegereltern in spe, als diese erfahren, dass sie nicht das leibliche Kind der Legrendes ist. Auch als Erwachsene bleibt sie schweigsam: „Unsere Mutter sprach nur mit der Wäsche und mit Babys.“ (Seite 15). Ihre fünf Kinder wachsen ohne Regeln auf außer einer: pünktlich zum Essen zu erscheinen. Das größte Vergehen ist es jedoch, ein uneheliches Kind zu bekommen. Denn der Makel, womöglich sogar die Tochter einer Hure zu sein, haftet der Mutter zeitlebens an. Tatsächlich sahen sich Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen, wie sie die Mutter und Großmutter Renées waren, oft gezwungen, sich zu prostituieren, um sich überhaupt durchbringen zu können. In der Anprangerung dieser prekären Verhältnisse schwingt auch Gesellschaftskritik mit.
An mehreren Stellen reflektiert die Autorin das Verhältnis zu ihrer Mutter, ihren Schreibprozess: „Ich schöpfe doch ständig aus dem Nichts. Ich mache ihr einen luftigen Sarg aus Worten.“ (S. 117) und ihre Motivation für ihr Schreiben. Sie möchte: „Maman aus dem Nichts retten“ (S. 166), deren Leben „ein Mosaik aus kleinen Handgriffen“ (S. 115) war. Sie will, dass ihre Mutter […] Ruhe gibt, damit ich selbst endlich meinen Frieden finde.“ (S. 9).
Schenk möchte ihre Mutter nicht nur als nur als Opfer sehen und sie wünscht ihr, dass sie in einer angeblichen Affäre, ihrem „Fauxpas“ (S. 142), wenigstens einmal echte Leidenschaft spüren konnte.

 

 

Seit ihrer frühen Eheschließung lebt Sylvie Schenk in Deutschland. Das auf Deutsch verfasste Maman schaffte es 2023 auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis, ist es doch sowohl in sprachlicher als auch in biografischer Hinsicht durch die Auseinandersetzung mit der (persönlichen) Vergangenheit lesenswert.“

 

 

Carl Hanser. 2023.
Kathrine Bader

„Maman“ von Sylvie Schenk

„Auf dem Buchcover steht zwar „Roman“, ich würde “Maman” aber als Biofiktion bezeichnen. Die Autorin selbst sagt von ihrem Annäherungsversuch an ihre Mutter Renée, es sei ein „approximativer Text“ (S. 9). Grundlage des Buchs sind die spärlichen Aktennotizen zu ihrer Mutter, die Lücken füllt Schenk mit imaginierter Handlung. Von Anfang an mischt sie sich quasi in das Geschehen, fühlt sich glaubhaft in die Person und Gefühlswelt ihrer Mutter ein: „Ich […] schlüpfe in Mamas Leben“ (S. 147). Ganze sechs Kapitel widmet sie ihrer unbekannten Großmutter Cécile, die wenige Stunden nach der Geburt Renées im Dezember 1917 stirbt. Zunächst bleibt das Kind im Waisenheim, bis es im Alter von sieben Monaten auf einen Pflegeplatz vermittelt wird. Die Bauersleute sind arm, die Aufnahme des Säuglings geschieht nicht aus sozialen, sondern aus monetären Motiven. Mit knapp sechs Jahren holt sie das kinderlose Ehepaar Legrende von dort weg – doch da hat die Seele des kleinen Mädchens schon Schaden genommen: Es spricht kaum, ist verschlossen, träge, kann keine besonderen Interessen und Talente entwickeln. Ihre Adoptivmutter zeigt jedoch Geduld und schenkt Renée ihre ganze Liebe. Wenig begabt, wird sie von ihren Klassenkameradinnen gehänselt und ausgegrenzt, eine Freundin findet sie nicht. Die Zuschreibung, eine Idiotin zu sein, brennt sich ihr ein.„Sie möchte etwas über sich erfahren, aber sie traut sich nicht zu fragen. Sie fragt auch sich selbst nichts Richtiges, oder stellt sich nur verfilzte Fragen, die noch vor dem Fragezeichen zerfallen.“ (S. 80) So bleibt die wahre Herkunft für ihre Kinder und für Renée selbst bis zu ihrem Tod ein Geheimnis, dem erst die Schwester der Autorin durch Recherchen auf den Grund geht.Die Eheschließung Renées mit einem Zahnarzt scheitert beinahe am Entsetzen der Schwiegereltern in spe, als diese erfahren, dass sie nicht das leibliche Kind der Legrendes ist. Auch als Erwachsene bleibt sie schweigsam: „Unsere Mutter sprach nur mit der Wäsche und mit Babys.“ (Seite 15). Ihre fünf Kinder wachsen ohne Regeln auf außer einer: pünktlich zum Essen zu erscheinen. Das größte Vergehen ist es jedoch, ein uneheliches Kind zu bekommen. Denn der Makel, womöglich sogar die Tochter einer Hure zu sein, haftet der Mutter zeitlebens an. Tatsächlich sahen sich Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen, wie sie die Mutter und Großmutter Renées waren, oft gezwungen, sich zu prostituieren, um sich überhaupt durchbringen zu können. In der Anprangerung dieser prekären Verhältnisse schwingt auch Gesellschaftskritik mit.An mehreren Stellen reflektiert die Autorin das Verhältnis zu ihrer Mutter, ihren Schreibprozess: „Ich schöpfe doch ständig aus dem Nichts. Ich mache ihr einen luftigen Sarg aus Worten.“ (S. 117) und ihre Motivation für ihr Schreiben. Sie möchte: „Maman aus dem Nichts retten“ (S. 166), deren Leben „ein Mosaik aus kleinen Handgriffen“ (S. 115) war. Sie will, dass ihre Mutter „[…] Ruhe gibt, damit ich selbst endlich meinen Frieden finde.“ (S. 9).Schenk möchte ihre Mutter nicht nur als nur als Opfer sehen und sie wünscht ihr, dass sie in einer angeblichen Affäre, ihrem „Fauxpas“ (S. 142), wenigstens einmal echte Leidenschaft spüren konnte.     Seit ihrer frühen Eheschließung lebt Sylvie Schenk in Deutschland. Das auf Deutsch verfasste Maman schaffte es 2023 auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis, ist es doch sowohl in sprachlicher als auch in biografischer Hinsicht durch die Auseinandersetzung mit der (persönlichen) Vergangenheit lesenswert.“     Carl Hanser. 2023.Kathrine Bader

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„Brunnenstraße“ von Andrea Sawatzki

„Im autofiktionalen Roman „Brunnenstrasse“ lässt Andrea Sawatzki, geboren 1963, Erinnerungen an die Siebziger Jahre wach werden und gibt Einblicke in das Leben einer Tochter mit alleinerziehender Mutter in ebendieser Zeit. Wie sich das Leben ändert, als der Vater sie und ihre Mutter zu sich holt und wie es ist, als Kind einen schwer kranken Vater betreuen zu müssen, erzeugt beim Lesen Gänsehaut. Ein Buch mit heiteren und sehr ernsten Momenten. Ein Buch, das man nicht mehr weglegen kann. Ein Buch, das unter die Haut geht.“ Brunnenstraße. Roman. Piper Verlag. 2022.Tina Bader

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„Dschinns“ von Fatma Aydemir

„Dschinns“ ist ein Familienroman von außerordentlicher Intensität. Fast 30 Jahre lang hat Hüseyin in einer deutschen Metallfabrik gearbeitet. Nun will er mit seiner Frau und möglichst auch mit den vier erwachsenen Kindern zurück in die Türkei. Fort aus  Deutschland, diesem „kalten, herzlosen Land“, das die Familie nie wirklich akzeptiert, ja, angefeindet hat. Als er plötzlich stirbt, versammeln sich alle Familienmitglieder in Rekordzeit. Sie werden aus ihrem Alltag gerissen  und reflektieren ihre Vergangenheit in einem Land, in dem sie nie auf Augenhöhe mit den „echten“ Deutschen leben und gelebt haben. Abgerechnet wird aber auch mit den starren Traditionen der türkischen Familie mit kurdischen Wurzeln und mit dem allgegenwärtigen Schweigen. Das Buch setzt sich zusammen aus sechs wütenden, trotzigen, resignierten, schmerzvollen Perspektiven, die uns Leser beklommen und aufgewühlt zurücklassen.“ Fatma Aydemir: Dschinns. Roman. dtv 2023.Gesine Hirtler-Rieger

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„Ansichtssache – den Blickwinkel erweitern“ Mein Reinschreibbuch mit Geschichten, Übungen und Impulsen von Susanne Büscher

Situationen, die uns das Leben als Herausforderungen bietet, bringen uns oft aus dem Gleichgewicht. Dieses Buch von Susanne Büscher zeigt Wege auf, die Dinge neu bzw. von einem anderen Blickwinkel aus zu sehen. Es lädt ein, den eigenen Gefühlen nachzuspüren, die Gedanken in die freien  Seiten des Buches zu schreiben und so Abstand zu gewinnen. Damit ist der Weg frei für neue Sichtweisen und Chancen.Stärkende Geschichten und Impulsfragen helfen, einen ressourcenorientierten Blick auf das Leben zu werfen. Dieses Buch ist auch für Workshop- und Seminarleiter:innen zu empfehlen. Beltz Verlag, 8/2023Erika Ramsauer

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„Erfülltes Leben“ von Friedemann Schulz von Thun

Was macht eigentlich ein „erfülltes Leben“ aus? Friedemann Schulz von Thun beschreibt fünf Arten von Erfüllung, die es zu würdigen gilt: 1) Glück gehabt – die Träume, die wahrgeworden sind, 2) Glück geschmiedet – die Sinnerfüllung, das, was durch mich verwirklicht wurde, wodurch ich zum Gelingen des Ganzen beigetragen habe, 3) die „Daseinserfüllung“ in Form von Transzendenz-Erfahrungen, das Bewusstsein der Allverbundenheit, das Staunen über die Wunder des Lebens, 4) biografische Erfüllung im teils schicksalhaften, teils charakterbedingten Auf und Ab des Lebens und 5) die Verbindung von allem – die Selbsterfüllung; was ich von dem, was als Möglichkeit in mir steckt, was mich zutiefst ausmacht, habe lebendig werden lassen. Ein tolles, lebenskluges Buch, gut zu lesen, nachzuvollziehen und mit eigenem Leben zu füllen. Hanser-Verlag 2021, ISBN 978-3-446-27145-6, 20€Adele von Bünau

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SCHREIBRÄUME © Verlag punktgenau

Der Name des Magazins ist eine glückliche Fügung, ähnlich wie die Kooperation, die sich zwischen den SchreibRÄUMlerinnen so organisch entwickelt hat. Der „Schreibraum“ ist ein Kernbegriff von Herausgeberin Birgit Schreibers Konzept: Dass beim Schreiben ein Möglichkeitsraum entstehen kann, der heilsam, therapeutisch und identitätsstärkend ist. Möglichkeitsraum ist wiederum ein Konzept von D.W. Winnicott, einem Bindungspsychologen, der ihn als einen sicheren Übergangsraum zwischen Welt und Innenwelt gesehen hat. Schreibräume können ganz nach Bedürfnis gestaltet werden: Als Spielraum, Kraftraum, Entspannungsraum, Werkraum, Traumraum. So findet jede und jeder, der möchte, Entfaltungsmöglichkeiten in einem Schutzraum. Das Konzept vom Spielraum des Schreibens gibt es außerdem in der Poesietherapie, die auf die Kraft des Spiels und der angeborenen Kreativität in jedem Menschen setzt. Magazinausgaben – Magazin SchreibRÄUME (schreibraeume-magazin.at)

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