Von Ursula Brüssermann
Wo ist Lulu?
Als Beraterin für Familien, die ein Pflegekind bei sich aufgenommen haben, unterstütze ich die Kinder, Familien und das Herkunftssystem unter anderem mit Biographiearbeit. Dabei ist es beeindruckend, wie schon kleine Kinder mit dem Thema umgehen.
Vor der Aufnahme eines Kindes beteilige ich alle Kinder der Familie zum Beispiel beim Familienbrett. Dabei haben bisher alle klar einen Standpunkt beziehen können und sie haben eine Vorstellung davon, wo sie stehen und was sie möchten.
Verschiedene Beispiele
Nach dem Einzug bei der Pflegefamilie machen die Kinder, wenn möglich, erst einmal Pause von ihrem Herkunftssystem. Sie sollen zur Ruhe kommen und ihren Platz an dem neuen Ort finden. Viele Kinder fragen nicht nach der Mutter. Einmal habe ich im Gerichtssaal Kinder in Obhut genommen und sie sind mit mir mitgegangen, als wäre ich ihre „neue“ Mutter.
Ein Kind hat fast sechs Jahre nichts von seinem Erlebten im Herkunftssystem preisgegeben. Als es damit anfing, war es erstaunlich, wie reflektiert es dies tat. Es wollte seine Geschwister treffen, aber nicht die Mutter. Die sei immer böse gewesen.
Erinnerungsgegenstände bewahren
Bei meiner Arbeit versuche ich, für die Kinder „Schätze“ zu bewahren: Fotos aus vergangener Zeit, Spielzeug, Anziehsachen, Anekdoten und schriftlich festgehaltene Momente. Wenn die Möglichkeit besteht, versuche ich so viel wie möglich auch bei dem Herkunftssystem zu sichern. Am wichtigsten ist mir, ein Foto von den Eltern mit ihrem Kind zu erhalten. Den Pflegeeltern empfehle ich, dieses im Zimmer des Kindes aufzustellen oder dort an die Wand zu hängen.
Die zweijährige Lulu
Im letzten Sommer habe ich ein Kind kurz nach seinem zweiten Geburtstag in einer Pflegefamilie aufgenommen. Ich nenne es Lulu. Sie war zunächst sehr zurückhaltend, zeigte aber über alle Maßen Interesse an allem und jedem. Die Pflegefamilie hat eine große Verwandtschaft und viele Besucher. Mit zweieinhalb fing sie an, sich dafür zu interessieren. Sie konnte bald auch die Zusammenhänge herstellen, wer der Onkel ist und welche Frau die Mutter eines bestimmten Kindes ist.
In dieser Phase fand der erste Umgang mit der Mutter Sabine statt. Sie brachte viele Fotos von Lulu mit: Ultraschall, dicker Bauch, Baby auf dem Arm nach der Geburt und viele andere. Nach dem Umgang fragte Lulu seine Mutter, ob sie bei ihr im Bauch war. Als sie dies bejahte, strahlte sie glücklich.
Einige Zeit später jagte sie mit einem Besucherkind durch die Wohnung. Ich nenne es Hans. Hans bleibt vor einem Foto stehen. Dies zeigt die Pflegefamilie vor dem Einzug von Lulu. Er fragt: „Lulu, warum bist du nicht auf dem Foto?“ Lulu: „Da war ich im Keller eingesperrt und habe doll geweint.“ Als die Pflegemutter dazukommt und sie an die Wahrheit erinnert, lacht Lulu und sagt: „Da war ich noch bei Sabine im Bauch. Ich bin erst später hier eingezogen.“
Ursula Brüssermann
Diplom Heil- und Sonderpädagogin
Systemische Beraterin, Biographiearbeiterin