Von Annette Quentin
Lebenskunst und Lebenskünstler:innen in meiner Familie entdecken
In meiner biografischen Arbeit setze ich gerne das Genogramm ein, eine Methode aus der systemischen Beratung und Therapie. Es hilft mir, Informationen aus dem familiären Kontext zu entdecken, um ein tieferes Verständnis der Biografie zu erlangen. Im Folgenden stelle ich Ihnen die Methode und die Arbeit mit diesem vor.
Genogrammarbeit: Was ist das?
Das Wort setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: Genealogie und Diagramm. Es ist eine andere Art des Familienstammbaums und hilft bei der Übersicht komplexer Familiensysteme. Die Schwerpunkte sind jedoch anders gelagert als bei einem klassischen Familienstammbaum.
In der ressourcenorientierten Biografiearbeit (RBA) suchen wir mit dem Genogramm gezielt nach den Ressourcen in den Herkunftsfamilien.
Weil das Genogramm aus der systemischen Therapie kommt, ist zunächst ein Blick auf die Prämissen der Systemischen Beratung und Therapie notwendig:
Was ist eine Familie?
In der systemischen Beratung und Therapie betrachten wir den Menschen nicht isoliert, sondern als Teil eines sozialen Systems. Jedes einzelne Mitglied eines Systems ist mit dem anderen verbunden, sodass eine Veränderung eines Mitglieds, automatisch die Veränderung des gesamten Systems bewirkt (wie bei einem Mobile).
Wesentliche Aspekte sind hierbei die Muster und Regeln der Kommunikation sowie widersprüchliche Erwartungen und Rollenvorstellungen.
Stellen Sie sich ein junges Paar vor, das beschließt, eine Familie zu gründen. Beide haben Eltern/Stiefeltern, Geschwister/Stiefgeschwister, Großeltern und Geschwister der Eltern, die wiederum verheiratet sind und auch Kinder haben. Schnell kommt ein Personenkreis von 20 bis 30 Mitgliedern zusammen. Es lohnt sich, diesen Personenkreis durch Aufstellung sichtbar zu machen. Diese einfache Form einer ‚Familienaufstellung‘ kann gut mit kleinen Bausteinen auf einem Tisch erfolgen. Es macht sehr deutlich, wie viele Personen ein „Familie“ bilden.
Jede Familie hat nun eigene Regeln, Sinngehalte und Verhaltensweisen, die über die Generationen hinweg weitergegeben werden. Das junge Paar muss aus den Traditionen ihrer Herkunftsfamilien eigene Regeln, Sinngehalte und Rituale entwickeln. Das Genogramm hilft dabei, die eigene Lebensbefindlichkeit sichtbar zu machen, die sich aus den Lebensumständen der Herkunftsgenerationen ableitet.
So starten Sie mit der Genogramm-Arbeit
Ein Genogramm wird immer über drei Generationen erstellt und es erfordert einige Vorarbeit: Befragen Sie Familienmitglieder, schauen Sie sich alte Fotos an oder suchen Sie in alten Dokumenten. Wenn es keine Informationen über einzelne Personen gibt, so kann man die Lebensumstände anhand der Lebenszeit und des Kontextes rekonstruieren.
Im Englischen heißt das Genogramm „familymap“, ein Begriff, den ich viel treffender finde, da er eher die „Landkarte“ einer Familie beschreibt und nicht die Landschaft. Es geht also um die individuelle Wahrnehmung als um eine Tatsachenbeschreibung.
Die Erstellung eines Genogramms
Die Entwickler:innen des Genogramms haben standardisierte Symbole entwickelt, die bei der Erstellung sehr hilfreich sind:
Die von Ihnen gesammelten Fakten, wie Geburts- und Sterbe-Daten, Datum der Heirat, evtl. Scheidung, Wohnorte, Berufe, Krankheiten und Todesursachen werden den Personen einer Familie zugeordnet. Auch emotionale Verbindungen, familiäre Muster und Kommunikationsmuster können durch das Genogramm sichtbar gemacht werden.
Zu den Personen aus den Herkunftsfamilien fallen Ihnen bestimmt drei Eigenschaften ein, die diese Person auszeichnet, z. B. dominant, hilfsbereit, verschlossen, geizig, ängstlich.
Hier ist das ‚Reframing‘ (Umdeutung) eine gute systemische Methode eines Perspektivwechsels: Zum Beispiel kann Geiz beschrieben werden, als eine Fähigkeit sparsam zu sein oder auch achtsamer Umgang mit den vorhandenen Ressourcen.
Ein ängstlicher Mensch ist auch vorsichtig, kann sich schützen.
Und Dominanz ist vielleicht eine andere Beschreibung für die Übernahme von Verantwortung und Durchsetzungskraft.
Verschlossenheit ist die Fähigkeit etwas für sich zu behalten und jemand der/die verschlossen ist, kann man sicherlich vertrauen.
Fragen, die in der Biografiearbeit helfen
In der Biografiearbeit arbeiten wir nicht therapeutisch, sondern wollen die Ressourcen des Familiensystems entdecken. Folgende Fragen können Ihnen bei der Erstellung eines Genogramms helfen, um Familiensysteme sichtbar zu machen:
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- Wer war in der Herkunftsfamilie unterstützend für mich?
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- Was genau hat diese Person für mich getan?
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- Wer in der Familie hat Hilfe angenommen und von wem?
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- Was war in schwierigen Zeiten hilfreich?
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- Wem in der Familie bin ich ähnlich?
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- Wer sieht das genauso?
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- Wie wurden Meinungsverschiedenheit ausgetragen?
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- Was mache ich anderes?
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- Was taten meine Eltern zum Vergnügen?
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- Worüber wurde gelacht?
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- Welche Rituale gab es?
Zusammenfassung
Das Genogramm ist in vielen Bereichen der Beratung und Betreuung eine Standardmethode, die in der Biografiearbeit auch einen festen Platz finden sollte.
Die einfache und übersichtliche Grundstruktur erleichtert die Mehrgenerationenperspektive. Sichtbar und nachvollziehbar wird visuell dargestellt, welche Personen alles zur Familie gehören, Beziehung zueinander werden sichtbar und Familientraditionen, die über Generationen womöglich ungeprüft übernommen wurden.
Im Unterschied zum Familienstammbaum steht im Genogramm die Ressourcenorientierung und die Kontextualisierung im Vordergrund.
So sind Sorgen und Nöte des Einzelnen nicht die Verantwortung des Individuums, sondern erkennbar im Zusammenhang seiner/ihrer Geschichte.
Weiterführende Literatur:
Mc Goldrick M., Gerson, R. : Genogramme in der Familienberatung, 5. überarb. Aufl. 2022, 400 Seiten, Stuttgart: Huber, 1990
Hildenbrandt, B.: Einführung in die Genogrammarbeit, Heidelberg, (5. Aufl.2020)
Satir, V.: Selbstwert und Kommunikation, Familientherapie für Berater, München, (6.Aufl.1985)
Annette Quentin, Lübeck
Dipl. Soz. Päd.,Trainerin für Biografiearbeit nach LebensMutig,Systemische-Familientherapeutin/DGSF, Lehrtherapeutin DGSF
www.annette-quentin.de