Patchworkfamilien – (K)eine besondere Familienform

Von Sandra Deistler

Familie ist, wenn man die Leute mag, die einem auf die Nerven gehen.

Meine große Tochter und mein Stiefsohn lachen gemeinsam über die staunenden Gesichter der Menschen, die danach fragen, wie viele Geschwister sie haben: Beide haben jeweils vier Geschwister: Fünf Kinder – das wirkt zunächst ungewöhnlich, irgendwie besonders. Weniger ungewöhnlich ist es, dem hinzuzufügen, dass die insgesamt sechs Kinder in drei Familien leben bzw. gelebt haben. Eine davon ist eine Einelternfamilie, eine Konstellation besteht die meiste Zeit des Jahres aus Vater, Mutter und Kind, wir sind die Patchworkfamilie: Aus zwei plus zwei wurden sechs. Etwas kompliziert finden es die beiden Großen, wenn sie Details erklären sollen, z.B. wieso mein dazu geschenkter Sohn eine Schwester hat, die zehn Jahre älter ist und eine, die 16 Jahre jünger ist als er. Meine Tochter weiß oft nicht, wie alt ihr dritter Bruder jetzt genau wird, wenn sie zu seinem Geburtstag eingeladen ist.

Ein wichtiger Pfad der Biografiearbeit sind die Erinnerungen an die Menschen, die das eigene Leben geprägt haben. In der Kindheit sind die wichtigsten Menschen die Eltern und Geschwister sowie die ersten Freund:innen. Noch vor 50 Jahren waren Scheidungen unüblich. Heute kennt jedes Kind mindestens ein anderes Kind, dessen Eltern getrennt leben. In Schweden nennt man Patchworkfamilien Bonusfamilien. Von allem hat man ein bisschen mehr: mehr Kinder, mehr Erwachsene, mehr Konflikte, mehr Glücksmomente, mehr Komplexität, mehr Diversität. Das kann unübersichtlich werden, bietet aber auch das Me(e)hr der biografischen Perspektivwechsel.

Ernst Ferstl behauptet, jeder Mensch sei eine Insel, andere schreiben: Niemand ist eine Insel.

Die Insel ist eine wunderschöne Metapher für einen begrenzten Ort. Dieser Ort kann auch das ICH sein, auch das DU. Grenzen sind dort, wo Kontakt stattfindet: zwischen ICH und DU, zwischen WIR und IHR. An Grenzen finden Grenzüberschreitungen statt. Hier findet Verlust statt und (Zu-) Gewinn. Grenzen sind Orte der Begegnung. Am schönsten und erfüllend sind Begegnungen mit Respekt und Wertschätzung. Jeder Mensch ist eine Insel, verbunden über den Erdboden mit anderen Inseln, die verschiedene Inselgruppen bilden, mit einem Festland in Verbindung sind, das wiederum zu einem Kontinent gehört und letztlich Teil einer ganzen Welt ist. Das bedeutet, dass jeder Mensch, mit allen Bedürfnissen und Träumen, seine eigenen Grenzen hat. Auch jede Familie kann als Insel betrachtet werden, mit eigenen Gesetzen, Werten und Möglichkeiten. Die Orientierung mag manchmal Schwierigkeiten bereiten, doch Biografiearbeit hilft dabei, zu ordnen und zu sortieren.

Etymologisch bedeutet Familie: Gesinde, Sklavenschaft – die ganze Hausgenossenschaft, abgeleitet vom lateinischen Begriff famulus: Diener.

Wie passend, denke ich. – Wie ein Sklave fühlte ich mich als schöne Mutter (la belle mère, franz. Stiefmutter) auch manchmal. Wenn ich mich beispielsweise Entscheidungen beugen musste, weil die leiblichen Eltern letztlich die Verantwortung für ihr Kind haben, ob es mir gefällt oder nicht. Aber auch dann, wenn die Geldeinnahme Kindergeld nicht funktioniert, weil die Kindergeldkasse in Deutschland noch immer keine anderen Familienformen zulässt und das Thema Geld in fast jeder Familie ein sensibles ist.

Demut meint aus etymologischer Sicht die Gesinnung eines Dienenden und beinhaltet die Begriffe dienen und Mut. Jeder Mensch braucht ein Nest, um sich geborgen und geliebt zu fühlen. Diesem Ziel diene ich gerne. Mut braucht es, sich den Herausforderungen zu stellen, die Familie, und zwar nicht nur Patchworkfamilie, mit sich bringt. Familie ist nicht einfach.

Tatsächlich kenne ich drei Familien, die aus Vater, Mutter und fünf sogenannten leiblichen Kindern besteht. In einer dieser Familien ist die älteste Tochter heute der zweite Sohn. In dieser Familie leben heute statt einem, zwei Söhne.

Zu Ostern kam uns unser großer Sohn mit unserer zukünftigen Stiefenkelin besuchen. Und mein Vater, ein Nachkriegskind, lebte mit seiner alleinerziehenden Mutter, seinem Halbbruder und seiner Oma zusammen. Das war die Uroma, die sich als eine der ersten Frauen in Deutschland hat scheiden lassen können …

Sandra Deistler
Dipl. Kunsttherapeutin FH, HP Psych. und Trainerin für Biografiearbeit, Heilbronn

www.atelierfuenf.de

Das Beitragsbild ist inspiriert von einer Abbildung aus dem Buch „Alles Familie!“ von Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl.

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