Von Adele v. Bünau

„Sachen von gestern“ sind Dinge, die einst alltäglich waren und die mittlerweile nahezu verschwunden aus unserer Umgebung sind. Einige von ihnen können ganze biografische Filme im Kopf beginnen lassen, wenn man sie sich vergegenwärtigt. Mit den Geschichten, die sich um „Sachen von gestern“ herumranken, lassen sich Zeiten und Lebensgefühle illustrieren. So würzen sie jede Biografie. Sie sind auch gut als Angelköder, um Erinnerungen aus der Tiefsee des Gedächtnisses zu fischen. Vorab ein Beispiel.

Der Plattenspieler

Lange stand er im Kellerregal, schräg über unserer Kostümkiste. Ein beige genoppter Koffer im Charme der 60er-Jahre. Erst schlich ich in respektvollem Abstand um ihn herum, dann traute ich mich, meine Mutter zu fragen, ob ich ihn in mein Zimmer stellen dürfe.

„Nein!“, war ihre schnelle Antwort – zu wertvoll für ein Kind. Diesen Koffer hatte sie sich von ihrem ersten, selbst verdienten Geld gekauft! Damit war er sakrosankt. Aber mein Wunsch war in die Mutter eingepflanzt und spross in ihr auf. Es dauerte nicht allzu lang, da stand der begehrte beige Koffer doch bei mir, verbunden mit einer Steckdose. Vorsichtig nahm ich seinen Deckel ab, und ehrfürchtig strich ich mit dem Finger über den mintgrünen, gerillten Plattenteller. Ich setzte einen Puck auf den Mitteldorn und schob den Geschwindigkeitsregler von 33 (für Langspielplatten) auf 45 (für Singles).

Auf dem Pfadfinder-Flohmarkt hatte ich mir eine tolle Platte gekauft: „Die Wanne ist voll“ von Didi Hallervorden und Helga Feddersen! Die zog ich jetzt aus ihrer Hülle, sorgsam bedacht, mit den Fingern nicht die Rillen zu berühren. „Die Platte putzen“ kann man auch anders verstehen. Für mich bedeutete es, mit dem antistatischen Staubtuch über die Rillen zu gehen, bevor ich die Single auflegte. Dann hob ich den Tonarm an, kickte ihn leicht nach hinten, um den Plattenteller in Bewegung zu bringen, und setzte vorsichtig die Nadel in eine der ersten Rillen. Aus den Koffer-Lautsprechern drang verheißungsvolles Knacken und Rauschen, bevor wenig später das Lied begann und mein Zimmer füllte – ein magischer Moment!

Viele Platten habe ich in den folgenden Jahren auf diesem Koffergerät abgespielt. 5 DM kostete eine aktuelle Single im Plattenladen, das war ein Monatstaschengeld! ABBA konnte ich mir auch von meiner großen Schwester leihen, Pink Floyd von meinem Bruder, aber für Dschingis Khan musste ich schon selbst tief in die Tasche greifen …

Die Bilder der Jugend

Anders als ein Titel von der Spotify-Playlist bot eine Single viel mehr als nur einen Hit. Sie verfügte auch über eine B-Seite mit einem unbekannteren Song. Vor allem aber verfügte sie über spektakuläre Bandbilder auf der Papierhülle, die für sich schon eine Zierde war. Das Bild auf einer LP war von der Größe her schon fast ein Fanposter, wofür man sich sonst eine Ausgabe der „Bravo“ hätte kaufen müssen. Noch viele Jahre nach der Plattenspielerzeit und Jahrzehnte nach der Zeit, in der ich mir freiwillig „Die Wanne ist voll“ angehört hatte, fühlte ich noch eine tiefe Verbundenheit zu diesen Plattenhüllen. Fast war ich versucht, die Wände meines Gästeklos damit zu tapezieren, um der alten Zeiten willen. So sehr sahen sie nach unbeschwerter Jugend aus.

Was sind Ihre „Sachen von gestern“?

Streifen auch Sie in Gedanken zurück und suchen Sie die Jahrzehnte des Lebens nach damals Alltäglichem ab, was es heute nicht mehr gibt. Freuen Sie sich an der Resonanz, die solche Erinnerungen erzeugen, und wenn Sie Lust haben: Greifen Sie zu einem Stift und schreiben Sie Ihre eigenen Geschichten dazu auf.

Sachen oder Tätigkeiten von gestern lassen sich in vielen verschiedenen Bereichen finden

  • In Bezug auf Essen beispielsweise: Haben Sie noch verkohlten Toast abgekratzt, um ihn essen zu können? Erinnern Sie sich an die Schweineköpfe, die einen von der Metzgerstheke ansahen und an das Hirn, das daneben in einer Schale wabbelte, bis sich eine Käuferin dafür interessierte? Was wurde alles für „essbar“ gehalten, was sich heute keiner mehr auf den Teller legen würde?
  • In Bezug auf Kleidung: Kittelschürze, Lederhosen, Wanderdirndl – was haben Sie getragen, was heute in der Kostümkiste der Enkel liegt?
  • In Bezug auf Sparsamkeit: Stiftverlängerer für Bleistiftstummel, „Schmierpapier“-Rückseiten als Notizzettel – welche Ausprägungen von Sparsamkeit waren typisch für eine bestimmte Zeit?
  • In Bezug auf Haushalt: Parkett bohnern, Silber putzen, Schuhe polieren – welche Tätigkeiten von gestern fallen Ihnen ein?
  • In Bezug auf Spielzeuge: der Holzreifen, der Tretroller oder der Zauberwürfel.
  • Vollkommen von gestern: Die vordigitale Welt. Was gibt es von Telefonzellen, Kursbüchern und Stadtplänen auf dem Käfer-Lenkrad zu erzählen?

„Sachen von gestern“ sind die Jukebox und der Flipper-Automat in der Kneipe. Die Rot-Kreuz-Suchplakate „Wer weiß, wer ich bin?“ oder die RAF-Fahndungsplakate später. Die Herzhäuschen über den Hof und die Stehtoiletten an der Autobahn. Die „Care-Pakete“ mit Seidenstrümpfen, Büchsen-Ananas und Kaffee, die man in die DDR schickte.

Von gestern sind auch die „Kaffee-Fahrten“, mit denen man günstig an interessante Orte kam und die Massagegeräte, die man dabei eigentlich gar nicht hatte kaufen wollen.

Sammeln Sie eigene „Sachen von gestern“ und die Geschichten dazu für eine farbenfrohe Autobiografie. Ich freue mich auch über andere Beispiele in den Kommentaren.

Adele v. Bünau
Redakteurin und Biografin, Siegen

www.ihreautobiografie.de

Eine Antwort

  1. Sachen von gestern sind toll! Mir fiel sofort das Berry Eis ein, ein rotes blockförmiges Erdbeereis am Stiel mit Alupapier eingepackt. Nicht nur, dass es sehr lecker war (naja, der Zucker eben) – wenn ich es ordentlich gelutscht hatte, waren meine Lippen hinterher immer ganz rot. Ich war die Schönste auf dem Schulweg ((-:

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn

Weitere Artikel

Biografischer Collagetisch

Von Gabi Neuhaus Mein Herz schlägt für die Kunst und ihre vielfältigen Möglichkeiten, Geschichten und sich selbst in und mit Bildern zu finden. Vorgefundenes Material

Sachen von gestern

Von Adele v. Bünau „Sachen von gestern“ sind Dinge, die einst alltäglich waren und die mittlerweile nahezu verschwunden aus unserer Umgebung sind. Einige von ihnen

Das Genogramm in der Biografie-Arbeit

Von Annette Quentin Lebenskunst und Lebenskünstler:innen in meiner Familie entdecken In meiner biografischen Arbeit setze ich gerne das Genogramm ein, eine Methode aus der systemischen

Aktuelles

Weitere Blogeinträge

Patchworkfamilien – (K)eine besondere Familienform

Von Sandra Deistler Familie ist, wenn man die Leute mag, die einem auf die Nerven gehen. Meine große Tochter und mein Stiefsohn lachen gemeinsam über die staunenden Gesichter der Menschen, die danach fragen, wie viele Geschwister sie haben: Beide haben jeweils vier Geschwister: Fünf Kinder – das wirkt zunächst ungewöhnlich, irgendwie besonders. Weniger ungewöhnlich ist es, dem hinzuzufügen, dass die insgesamt sechs Kinder in drei Familien leben bzw. gelebt haben. Eine davon ist eine Einelternfamilie, eine Konstellation besteht die meiste Zeit des Jahres aus Vater, Mutter und Kind, wir sind die Patchworkfamilie: Aus zwei plus zwei wurden sechs. Etwas kompliziert finden es die beiden Großen, wenn sie Details erklären sollen, z.B. wieso mein dazu geschenkter Sohn eine Schwester hat, die zehn Jahre älter ist und eine, die 16 Jahre jünger ist als er. Meine Tochter weiß oft nicht, wie alt ihr dritter Bruder jetzt genau wird, wenn sie zu seinem Geburtstag eingeladen ist. Ein wichtiger Pfad der Biografiearbeit sind die Erinnerungen an die Menschen, die das eigene Leben geprägt haben. In der Kindheit sind die wichtigsten Menschen die Eltern und Geschwister sowie die ersten Freund:innen. Noch vor 50 Jahren waren Scheidungen unüblich. Heute kennt jedes Kind mindestens ein anderes Kind,

Biografischer Collagetisch

Von Gabi Neuhaus Mein Herz schlägt für die Kunst und ihre vielfältigen Möglichkeiten, Geschichten und sich selbst in und mit Bildern zu finden. Vorgefundenes Material wie Fotos, Briefe, Postkarten, Papierkorbschnipsel, u.v.m. ermöglicht spielerische, intuitive, kreative und sprachfreie Zugänge zu biografischem Arbeiten. Diese organisiere ich gerne am „Biografischen Collagetisch“ mit einem dazugehörigen Kunstbuffet, einer Auswahl sortierter Materialien und Werkzeuge. Die Essensmetapher ist dabei bewusst gewählt, denn intendiert ist eine lust- und genussvolle Beschäftigung mit den vorgefundenen Ressourcen. Der gestalterische Akt der Collage ähnelt dem des biografischen Arbeitens und verläuft in mancher Hinsicht auch kongruent. Ressourcenorientierte Biografiearbeit knüpft wie das Collagieren an Vorhandenem an. Im Vorgefundenen wird nach dem Erlebten, Möglichen oder neu zu Betrachtenden gesucht. Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Lebensfragmente werden in der Biografiearbeit fragend und forschend in neue Zusammenhänge gestellt und erfahren – im besten Fall – Aktualisierungen im Hinblick auf spezifische Fragestellungen. Ähnliches passiert im Collageprozess: einzelne Teile werden ausgesucht und neu zusammen gesetzt, weiter aus- oder umgestaltet. In der Arbeit entsteht ein neues Bilderleben, möglicherweise eine neue Bilderzählung und ggf. auch eine Verarbeitung oder Neubewertung des mit den Einzelteilen verbundenen Erlebten. Collage & Biografiearbeit                                                           Was auf den Tisch kommt … Alle vorgefundenen und individuell bedeutsamen „Biografischen

Vom Dunkel ins Licht – Meiner Trauer Raum geben

Von Astrid Gaisberger Ab Februar merkt man es meistens, dass die Tage wieder spürbar länger und heller werden. Oft glaubt man auch, dass sich da die Stimmung automatisch aufhellt. Das kann sein, muss aber nicht. Gerade für diejenigen, denen es gerade nicht so gut geht, ist das ein zusätzlicher Belastungsfaktor. „Ich müsste mich doch besser fühlen.“ Vom Dunkel ins Licht. Wie schafft man das nach einer Verlusterfahrung? Den Schmerz fühlen, annehmen und verarbeiten Trauerarbeit heißt nicht, dass wir möglichst schnell da durchkommen. Zuallererst müssen wir den Schmerz annehmen und ihn zulassen. Ihn fühlen. „Ja, es tut weh.“ „Ja, es darf weh tun.“ So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so unterschiedlich können sich auch die Trauerphasen gestalten. Biografiearbeit eignet sich gut, mit Verlusten umzugehen. Erinnerungen kreativ bewahren Eine Erinnerungsschachtel gestalten und befüllen kann wesentlich dazu beitragen, einen Verlust zu verarbeiten. Ich nehme mir bewusst Zeit, mich an das, was vorher war, zu erinnern. Sei es ein Mensch, ein Tier oder eine Lebensphase.Etwas mit den eigenen Händen gestalten, kann sehr beruhigend sein. Es kann ganz einfach eine Schuhschachtel sein, die man schön verziert, die man mit Acrylfarben bemalt oder mit Bildern aus Zeitschriften oder Kalendern beklebt. Es kann aber auch eine neu

  • Save-the-date

    Hier informieren wir über wichtige Veranstaltungen, zu denen Sie sich den Termin schonmal im Kalender vormerken können.

  • Info Brief

    Unser Info-Brief wird einmal im Monat herausgegeben von einem unserer Mitglieder.

  • Buch des Monats

    Hier stellen wir unser Buch des Monats vor.

  • Blog

    Unsere aktuellen Blogartikel finden Sie hier im Blog Bereich.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner Skip to content