Von Susanne Westphal-Gerke
Biografisches und kreatives Schreiben lässt sich wunderbar durch Ortswechsel bereichern. Eine Möglichkeit besteht darin, in die Natur zu gehen und dort schreibend kreativ zu werden. Nature Writing boomt und wird seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum immer populärer. Dieser Blogbeitrag geht der Frage nach, was der Begriff Nature Writing bedeutet, der zurzeit in aller Munde zu sein scheint. Passt er auch zu Ansätzen, die wir beim biografischen und kreativen Schreiben verfolgen? Um es gleich vorweg zu sagen, für die Bezeichnung Nature Writing gibt es keine simple Übersetzung auf Deutsch. Doch es bereitet allemal Freude, sich zum Schreiben nach draußen zu begeben. Was daran so reizvoll ist, was man dabei beachten sollte, ebenso einige Schreibimpulse erfahren Sie hier.
Woher stammt Nature Writing?
Nature Writing ist in den USA und in Großbritannien ein literarisches Genre mit einer langen Tradition. Henry David Thoreau, Annie Dillard in den USA, Nan Shepherd in Schottland und später Robert Macfarlane in England schreiben unter anderem über ihre persönlichen Wahrnehmungen von Natur, ihren praktischen Umgang mit Natur oder auch über die menschliche Aneignung von Natur.
Im deutschsprachigen Raum wird Nature Writing nicht als ein spezielles literarisches Genre gesehen. Doch finden sich auch hier ganz unterschiedliche Werke, die sich auf literarisch anspruchsvolle Weise mit Erkundungen, Wahrnehmungen und Reflexionen von und über Natur und Landschaft beschäftigen. Der Verlag Matthes & Seitz gibt die Reihe Naturkunden heraus, in der zum Beispiel Titel über Krähen, Austern, Verlassene Orte usw. erscheinen. Außerdem schreibt der Verlag seit 2017 den Preis für Nature Writing aus, mit dem Lyrik, Essays und Prosatexte gewürdigt werden.
Der Begriff Nature Writing bezieht sich demnach hauptsächlich auf literarisches Schreiben. Dennoch sieht man hin und wieder Angebote für Schreibwerkstätten, die keine literarische Ausrichtung haben und auch den Begriff Nature Writing verwenden.
Alternativ zu dem Begriff Nature Writing, der wohl hauptsächlich das literarische Format bezeichnet, nutzen Anbieter*innen von Schreibworkshops, die draußen stattfinden, Bezeichnungen wie:
- Schreiben in der Natur
- Schreibspaziergang
- Naturnahes Schreiben
Das Besondere beim Schreiben in der Natur
Körperliche Bewegung, wie das Gehen, und der Aufenthalt in der Natur regen die Fantasie, das Erinnerungsvermögen und die Kreativität an. Folgende Aufgabe passt gut als Einstieg für das Schreiben in der Natur. Die Teilnehmenden sollen auf dem ersten Teil des Weges alle zwanzig Schritte stehen bleiben, eine Hand zu einem Fernrohr formen, sehen, Eindrücke sammeln und jeweils ein bis zwei Wörter, Halbsätze oder Sätze notieren. Diese persönliche Wortliste dient später als Inspiration für weitere Schreibanlässe (z.B. für einfache Gedichtformen; Miniaturen).
Das unmittelbare Erleben von Natur stimuliert die Wahrnehmung, alle Sinne sind angesprochen. Das geschieht bei einer weiteren Aufgabe, sitzend und mit dem Rücken an einen selbst ausgewählten Baum angelehnt. Während die Teilnehmenden die Baumrinde fühlen, können sie einen Brief an diese Buche, Birke oder Eiche schreiben oder einen schriftlichen Dialog mit dem Baum beginnen. Auch die Erde als Ansprechpartnerin wäre denkbar. Möglicherweise entsteht bei manchen eine kritische Auseinandersetzung, bezogen auf die Auswirkungen menschlicher Handlungen auf die Natur. Andere gehen auf eine Weise in Resonanz, dass sie derzeitige persönliche Befindlichkeiten fokussieren. Beides ist bedeutsam, der Blick nach innen und der nach außen.
Auch im Freien, wo zusätzlich die Atmosphäre der Umgebung nachhallt, ist es spannend und äußerst bereichernd, wenn die Gruppe Geschriebenes beim Vorlesen teilt. Immer wieder liegt für alle eine große Faszination darin zu erfahren, wie andere denselben Schreibimpuls inhaltlich und stilistisch umsetzen. Empfehlenswert sind Schreibeinheiten von sieben bis zehn Minuten, damit die Vorleserunden nicht zu lang werden.
Während die Schreibgruppe durch den Wald geht, an einem Fluss entlang schlendert, sich im Park oder im Botanischen Garten aufhält, können biografische Schreibimpulse verbunden mit dem direkten Erleben von Natur Erinnerungen wecken. Wo habe ich mich als Kind, als Teenager, als Erwachsene*r am liebsten in der Natur aufgehalten? Hatte ich einen Kletterbaum oder ein Versteck? Wer war bei mir? Wie sah die Wiese aus, auf der ich gespielt habe? Beim Sitzen auf der Wiese, beim Barfußgehen oder mit den Füßen im Bach kommt bei den Teilnehmenden etwas in Bewegung und Erinnerungen beginnen zu fließen. Es kann eine Liste mit immer demselben Satzanfang „Ich erinnere mich an …“ notiert werden. Ist genug Zeit vorhanden, wird in der nächsten Schreibanregung einer der Satzanfänge ausgewählt und zu einem kurzen Text weitergeschrieben.
Schreiben über sich selbst
Schreiben in der Natur und über Natur ist auch Schreiben über sich selbst und über das Leben. Die Natur bietet sich als Metapher an: ein Weg, ein Fluss, Wurzeln, Bäume, auch das Aufblühen, Wachsen und die Vergänglichkeit halten Themen für biografisches Schreiben bereit.
Der Aufenthalt draußen hält zahlreiche Möglichkeiten für Perspektivwechsel bereit. Es lassen sich Abenteuer oder auch philosophische Abhandlungen aus der Sicht eines Käfers, einer Ameise, einer Maus oder aus der Perspektive eines Vogels oder einer Wolke schreiben. Welche Geschichten entstehen, wenn sie aus der Ich-Perspektive („Was ich an diesem Montag als Käfer erlebte …“) erzählt werden oder aus der 3. Person („Die Wolke zieht über … und …“)? Es gibt unzählige Varianten für Schreibimpulse.
Anregung der Kreativität
Die Kreativität wird beim Schreiben in der Natur angekurbelt. Anregend ist die Beschäftigung mit der Farbe Grün. Grün gibt es in unzähligen Nuancen in der Natur und kann nachweislich eine beruhigende und heilende Wirkung haben. Die Schreibgruppe erhält den Impuls, eine Liste mit bekannten und erfundenen Grüntönen anlegen und serielle Sätze schreiben. Dabei steht ein Grünton am Anfang des Satzes, der mit beliebigen Verben und allen möglichen Assoziationen fortgesetzt wird:
- Moosgrün ist …
- Tannengrün macht mich …
- Mintgrün will ich …
- Flaschengrün sieht …
- Kleeblattgrün …
- Spinatgrün …
Auch so eine Sammlung von Sätzen und Ideen kann als „Material“ für weitere Schreibanlässe dienen.
Organisation von Schreibspaziergängen
Für eine Veranstaltung zum Schreiben in der Natur ist eine präzise Ankündigung nötig, in der die Länge der zu Fuß zu bewältigenden Strecke und der Treffpunkt angegeben werden. Die Teilnehmenden benötigen ein Klemmbrett, Schreibzeug, eine Sitzunterlage, eventuell auch ein Getränk und Sonnenschutz. Der Reiz von Schreibveranstaltungen in der Natur liegt in einer gewissen Unplanbarkeit (Insekten, Tiere, Wetter). Auf Wetterwechsel muss geachtet werden und ein Erste-Hilfe-Täschchen für Notfälle sollte dabei sein.
Ein gut vorbereiteter Schreibspaziergang wird zu einem bereichernden Erlebnis für die Schreibgruppe. Man muss nicht immer weit reisen, sondern kann sich auf kreative Weise mit der Natur vor der eigenen Haustür verbinden und mit ihr schreibend in Resonanz gehen. Mehrere Kräfte wirken gleichzeitig zusammen, die inspirierende und heilende Kraft des Schreibens und die der Natur. Schreibspaziergänge wirken entschleunigend und erdend. Am Ende geht die Schreibgruppe entspannt, erfrischt und mit neuer Energie nach Hause.
Susanne Westphal-Gerke
Schreibpädagogin (MA)
www.schreibraum-kiel.de