Was meine Mutter mir mitgab

Erinnerungen an die Mutter

Von Gesine Hirtler-Rieger

Dies und jenes tut man nicht, lernt das Kind, und anderes ist ganz wichtig, einfach weil die Mutter es so sehr schätzt – aha! Manche Haltung wird übernommen, anderes lehnt man spätestens in der Pubertät heftig ab, eben weil die Mutter es vorlebt – bis sich die Abneigung Jahre später auf wunderbare Weise verwandelt. Ich erinnere mich gut daran, wie ich es hasste, wenn meine Mutter sagte: „Zum Mittagessen gibt es heute einen Gang durch den Garten.“ 

 



Oh, wie mir diese Gemüsesuppen zum Hals heraus hingen! Am meisten verabscheute ich den Sellerie – bäh, so ein widerlicher Geschmack! Überflüssig zu sagen, dass ich heute mit Begeisterung Suppen koche und Sellerie lieben gelernt habe, oder? Und es gab noch mehr, das ich damals überflüssig, schrecklich oder spießig fand: das Mittagsschläfchen, das meine Mutter zu halten pflegte. Die Wertschätzung der Dinge, die geschont und noch einmal verwendet wurden. Aber auch das Pochen auf Höflichkeit und die angemahnten Dankesbriefe für Geschenke.

 

Was wir mit feinen Antennen in unserem Elternhaus wahrnehmen, hören, fühlen, das nimmt Einfluss auf unser Leben. Es kann sehr erhellend sein, sich darüber mit den Eltern, den Geschwistern, den Cousinen und Cousins im Gespräch auszutauschen: Wie war das bei Dir? Und wie ist das heute?

 

Mein Lieblingsstück

An manchen Gegenständen, die wir von der Mutter bekommen haben, lassen sich Erinnerungen besser festmachen. Sie können Aufhänger für besondere Geschichten sein. Dazu befragte ich kürzlich mehrere Frauen aus unterschiedlichen Kulturen. Die Mexikanerin Julieta (46) nannte das Schultertuch ihrer Mutter. Die Irakerin Begard (21) hält die Goldkette ihrer Mutter hoch in Ehren. Und Heike (50) aus Vilshofen, die leidenschaftlich gerne bäckt, benutzt das Nudelholz ihrer Oma mittlerweile in dritter Generation und denkt jedes Mal an ihre Mutter, die ihr einmal sagte: „Wenn ich mich ärgere, rühre ich einen Teig an und knete all meine Aggressionen hinein.“

Besonders berührt hat mich die Geschichte von Katharina (60) über das Teigrädchen ihrer Mutter. Sie erzählte mir von diesem Küchenutensil, das sie bis vor kurzem noch benutzte. Ihr Vater war Schmied und hatte es für ihre Mutter vor vielen Jahrzehnten von Hand gefertigt.  Es erinnert Katharina an ihre Kindheit. Während des Krieges waren die Eltern vom Kaukasus nach Kasachstan verschleppt worden. Dort lebten sie in einem armseligen Dorf in der Steppe und bekamen 13 Kinder. Acht davon überlebten. „Von meiner Mutter habe ich viel übernommen“, erzählt Katharina: die Geduld, mit der diese den harten Alltag meisterte. Und ihr handwerkliches Geschick. Die Mutter hatte sich das Nähen selbst beigebracht und auch für ihre Nachbarin Kleidung gefertigt, die sich dann mit Butter und Milch revanchierte.
Das steckte Katharina an, schon als Sechsjährige nähte sie für ihre Puppen Kleider. Später ließ sie sich als Schneiderin für Herrenoberbekleidung in Kasachstan ausbilden.

Katharinas Mutter war eine einfache Frau, die nicht einmal lesen und schreiben konnte, aber für ihre Tochter war sie ein Vorbild. Vor einigen Jahren befand sich Katharina in einer schwierigen persönlichen Situation. Sie entschied, sich von ihrem Mann zu trennen und der Liebe ihres Herzens zu folgen. Sie hatte Angst davor, es der Mutter, die damals schon 89 Jahre alt war, zu erzählen. „Aber sie nahm meine Hand, sah mich liebevoll an und sagte: Kind, ich habe doch schon lange gemerkt, dass Du unglücklich bist. Tue, was Du für richtig hältst, hör auf Dein Herz und werde glücklich.“

Das Teigrädchen war der Auslöser, dass Katharina über ihre Mutter nachdachte. Welchen Gegenstand Ihrer Mutter halten Sie in Ehren? Woran erinnert er Sie? Erzählen Sie darüber oder schreiben Sie es auf, damit es nicht verloren geht. Setzen Sie Ihrer Mutter damit ein kleines Denkmal.


Gesine Hirtler-Rieger
www.schreibwerkstatt-passau.de

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