Ein Lob der Handarbeit

Ma petite vie en rose

Von Waltraud Eulenstein

Wie viel Zeit finden Sie in Ihrem Leben, etwas mit der Hand zu machen? Damit sind nicht alltägliche Arbeiten gemeint, die Sie routiniert und automatisch erledigen. Auch nicht das Wischen über den Handybildschirm. Ein paar Gedanken über Handarbeit, darüber, mit der eigenen Hände Arbeit etwas zu gestalten und erschaffen. Ein paar Zeilen zur Inspiration, das auch selbst einmal zu versuchen!

So viele Arbeiten übernehmen heute Maschinen für uns. Sie können es meist schneller als wir, sie sind effizient und genau. Die Arbeitswelt:  für viele eine Welt der Maschinen und Computer. Stunde um Stunde starren wir auf Bildschirme, bedienen Maschinen und Geräte, die uns das Leben leichter machen. Selbst im Haushalt.

Was dabei verloren geht, ist ein immenser Verlust.

Wie bereichernd es sein kann, mit den eigenen Händen etwas zu erschaffen, anstatt Maschinen zu bedienen, wie sehr Handarbeiten der unterschiedlichsten Form stärken, entspannen und der Seele gut tun, ist in den letzten Jahren immer mehr Menschen bewusst geworden. Auch mir. Mein Nähzimmer ist mir Rückzugsort und Lernwerkstatt.

Mit meiner Hände Arbeit

Kurz bevor meine Mutter vor drei Jahren starb, hatte ich gerade eine große Patchworkdecke genäht. Mein erstes großes Projekt, eine Decke bestehend aus 300 Quadraten, mit viel Hingabe, Zeit und Phantasie selbst entworfen und genäht. So viel Arbeit, sagte sie, und staunte. Sie, die an vielen ihrer langen Tagen als immer älter werdende Frau Stunde um Stunde mit dem Strickzeug in der Hand auf der Ofenbank saß.

Vielleicht habe ich es von ihr, dieses Bedürfnis, etwas mit meinen Händen zu machen.

Was Sie beim Handarbeiten alles lernen können- über die Kunst an sich und über sich:

Achtsamkeit und Wertschätzung

Wer je etwas selbst mit den eigenen Händen angefertigt hat – und sei es noch so klein wie zum Beispiel ein Nadelkissen – bekommt einen anderen Blick auf die Warenwelt und sieht mit skeptischem Blick über manchen maschinell gefertigten Billigtand hinweg. Warum zur Massenware greifen, wenn man sein eigenes individuelles Einzelstück haben kann.

Selbst bestimmen und gestalten!

Wir leben in einer Zeit voller Unsicherheiten und Krisen. Wie wertvoll ist es in einer solchen Situation, eine Nische zu haben, in der man selbst die Kontrolle hat, die Dinge – im wörtlichen und im übertragenen Sinn – selbst in der Hand hat. Beim Handarbeiten bin ich es, die entscheidet und bestimmt. Es sind meine Ideen, die ich umsetze. ich suche die Farben aus, den Stoff, die Wolle, das Muster.  Oft entsteht die genaue Vorstellung, wie das fertige Objekt aussehen soll, erst im Prozess, im Tun. Es gibt viel zu lernen dabei. Die Motivation, die Freude daran finde ich ganz und gar in mir.

Mut zum Murks!

Hatten Sie vielleicht in Ihrer Schulzeit auch so eine strenge, unbarmherzige Handarbeitslehrerin wie ich? Gar nicht so leicht, so einer Erfahrung zum Trotz Freude am Handarbeiten zu bewahren. Und nicht jedes Projekt, das man beginnt, wird problemlos so schön wie erhofft. Im Gegenteil. Vielleicht haben Sie ein Problem unterschätzt, an irgendeiner Stelle den (Gedulds)Faden verloren oder durch Unachtsamkeit etwas vermurkst? Lust, es in Ecke zu werfen? Gute Idee. Aber bitte nur vorübergehend. Verloren geben sollten Sie das Projekt noch nicht. Nur Mut! Zeit hilft. Eine Weile zur Seite legen. Irgendwann, vielleicht schon ganz bald, kommt die Idee, wie Sie es verändern, umgestalten, verschönern können. Wie im Leben auch: Was nicht auf Anhieb gelingt, braucht vielleicht noch Zeit. Eine neue Inspiration. Noch etwas mehr Energie. Damit Sie am Ende sagen können:

Vielleicht nicht ganz perfekt. Aber ganz meins. Ein Unikat – genauso wie Sie!

Lust auf Verwandlung?

Das ist gar nicht so schwer mit ein wenig Geschick und zwei Händen und lässt sich unter dem Motto Upcycling ausprobieren bei Textilien, die vielleicht nicht mehr ganz top sind in Bezug auf Zustand oder Mode. Lässt sich da noch was aufhübschen? Bekommt die zerschlissene Jeans ein zweites Leben als Tasche? Ihre Kreativität macht es möglich. Und die schönen Erinnerungen, die in der alten Jeans wie eingewoben scheinen, bewahrt jetzt die Tasche auf.

Meditation und Entspannung

Beim Arbeiten mit Stoff, mit Garn, mit Wolle, lässt es sich wunderbar zur Ruhe kommen. Es hilft, ganz bei sich zu sein. Das Fokussieren auf die kreative Arbeit fühlt sich an wie Meditation. Ganz im Hier und Jetzt. Was für eine angenehme Ablenkung von Alltagsroutine und Stress. Es ist leicht, dabei zu entschleunigen, in den Flow zu kommen, mit sich in Einklang zu kommen. Plötzlich ergibt vieles, das sonst kompliziert scheint, einen Sinn. Fäden lassen sich mit Geduld und Achtsamkeit entwirren, verbinden, zum Muster fügen. Leichte Ungenauigkeiten lassen sich mit Fingerfertigkeit und kleinen Tricks ausgleichen. Und der fadenscheinige, alte Leinenstoff erzählt mir in meiner Fantasie, was er schon erlebt hat, während ich ihn besticke.

Und am Ende – keine leeren Hände

Wie war das in Ihrer Familie? Gibt oder gab es eine Tante, eine Oma, die eine ganz besondere Kunst beherrschte? Das Klöppeln vielleicht oder Hardanger? Haben Sie es sich – rechtzeitig – zeigen lassen, damit diese Kunst nicht ausstirbt? Wer soll es den Jüngeren beibringen, wenn es keiner mehr kann? Wer sich mit Handarbeit beschäftigt, hilft, altes Wissen zu bewahren – und fördert ganz nebenbei die Koordination der beiden Gehirnhälften. Und am Ende halten Sie ein Ergebnis in den Händen, zur eigenen Freude oder als Geschenk für einen lieben Menschen – um das Glück zu teilen.

In dem Sommer, der auf den Tod meiner Mutter folgte, habe ich noch zwei Decken genäht. Eine für meine Tochter. Eine für meinen Sohn. Ich wollte ihnen etwas schenken, was die Zeit überdauert, was bleibt. So wie die Socken, die meine Mutter immer gestrickt hat. Ich habe immer noch etwa ein Dutzend davon. Immer noch halten sie meine Füße warm, wenn mir kalt ist.


Waltraud Eulenstein

Trainerin für Biographiearbeit / Schwerpunkt Textile Biographiearbeit

Aggensteinstr. 3  – 87600 Kaufbeuren

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