Die Herkunftsfamilie als wertvollen Schatz anerkennen

Von Günther Walch

Der Austausch mit Eltern und Geschwistern ermöglicht einen tiefen Einblick in die eigene Biografie. Die nahen Angehörigen sind die wichtigsten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen der eigenen Lebensbiografie und dieses Potenzial wird oft nicht ausreichend wertgeschätzt und genutzt. Ausgehend von meinen Erfahrungen mit meiner Herkunftsfamilie ist es mir ein Anliegen, Bewährtes weiterzugeben und von hilfreichen Angeboten, wie „Generationen im Dialog“, „Geschwister im Dialog“ und ritualisierten Familientreffen, zu erzählen. 

Vor dem Tod meines Vaters hatte ich die Gelegenheit, mit ihm einen intensiven Austausch zu pflegen. Meine Motivation war damals, möglichst viel von ihm über meine Wurzeln zu erfahren. Für mich war es wichtig, das Gehörte mitzuschreiben und zu kontextualisieren. Durch diese Begegnungen sind wir einander zunehmend vertrauter geworden, und so konnte ich eine für mich neue, weiche und empathische Seite in ihm kennenlernen. Diese persönlichen Gespräche haben mir auch in meiner Entwicklung zum Mann sehr geholfen. Ich bin meinem Vater für dieses Geschenk sehr dankbar!

Diese Erfahrung motiviert mich seither mitzuhelfen, dass Familienmitglieder gut miteinander in Kontakt bleiben oder, falls notwendig, bei einem Versöhnungsprozess unterstützt werden. Vor einiger Zeit habe ich von den „Generationen im Dialog“ – Workshops erfahren. Dieses Konzept hat mich so überzeugt, dass ich gerne daran teilnehmen wollte. Zum Glück war einer meiner Söhne dazu bereit, sich mit mir gemeinsam auf dieses Abenteuer einzulassen. Danach habe ich mehrmals bei solchen Seminaren mitgearbeitet.

Workshop: Generationen im Dialog

 Unsere Vergangenheit und unsere Beziehungen in der Familie prägen uns Menschen ein Leben lang. Unbewusst geben wir Erfahrenes, Schönes und Schwieriges, an die nächste Generation weiter, der wir eigentlich ein freies und unbelastetes erwachsenes Leben wünschen. 

Im Workshop „Generationen im Dialog“ (entwickelt von Dr.in Sabine Bösel und Roland Bösel )

bilden ein Elternteil und ein erwachsener Sohn oder eine erwachsene Tochter ein Generationenpaar, das die Gelegenheit hat, miteinander sowohl Schönes zu erinnern als auch durch wertschätzende Dialoge herausfordernde Themen anzusprechen. In Form von strukturierten Dialogen sprechen die beiden miteinander, hören einander einfühlsam zu und vertiefen ihr Verständnis voneinander.

Auch ohne konkreten Anlass kann es wichtig sein, einander erwachsen in einer neuen, bewussten Weise auf Augenhöhe zu begegnen. Aber auch belastende Familienmuster, Verletzungen, Familiengeheimnisse und Dogmen können geklärt und bearbeitet werden, und die Beziehung zu Vater/Mutter bzw. Tochter/Sohn kann ein Stück weit heilen.

In den Workshops wird darauf geachtet, dass diese Begegnung in einem geschützten Raum stattfinden kann. Die Generationenpaare werden gut begleitet auf dem Weg, innerlich frei zu werden, eine ehrliche, erwachsene Beziehung miteinander zu gestalten, neue Familientraditionen zu begründen und eine für beide stimmige Nähe zu finden.

Seit einiger Zeit werden auch Workshops für erwachsene Geschwister angeboten, „Geschwister im Dialog“. Die gleichen Eltern zu haben, bedeutet nicht, gleich wie meine Schwester oder mein Bruder zu sein. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist, neben den Anlagen, die Position in der Geschwisterreihe und der möglicherweise unterschiedliche Kontakt zu Vater und Mutter sehr bedeutungsvoll. Dies kann, durch unterschiedlich erlebte Nähe zu den Eltern, das Verhältnis der Geschwister zueinander beeinflussen. Auch hier gilt, wie in anderen Lebensbereichen: Der Austausch hilft. Die Geschwister als wichtigste Zeitzeugen und Zeitzeuginnen meines Heranwachsens können mich dabei unterstützen, mich besser kennenzulernen.

In meiner Herkunftsfamilie – ich bin mit vier Geschwistern aufgewachsen –  gibt es seit einigen Jahren die Tradition von ritualisierten Begegnungen.

Ritualisierte Begegnungsmöglichkeiten

Was hat uns als Familie geholfen, dass wir als Geschwister immer noch gerne Zeit miteinander verbringen, obwohl unsere Lebenssituationen und Überzeugungen sehr unterschiedlich sind? Hilfreich war es, die Begegnungen zu planen und konkrete Termine dafür zu vereinbaren. In unserer Familie sind das der 25. Dezember und ein Samstag rund um den 15. August. Durch diese ritualisierten Treffen, in denen wir uns in der GastgeberInnenrolle abwechseln, blieb der Kontakt zwischen uns fünf Geschwistern auch nach dem Tod unserer Eltern erhalten.

Mittlerweile gibt es bei uns auch die gelebte Vereinbarung, dass wir Geschwister zu jedem runden Geburtstag zu einer gemeinsamen Reise zu fünft einladen. Das „Geburtstagskind“ wählt Art und Ziel der Reise. Wenn auch dieses Zusammensein über längere Zeit nicht immer konfliktfrei ist, überwiegt doch das Gemeinschaftsgefühl. Im besten Fall erfahre ich in einem Konflikt schließlich auch etwas Neues über mich.

Ich bin meinen beiden älteren Schwestern dankbar dafür, dass sie damals, als sie ihre Familien gegründet haben, uns Geschwister zu ihren Familienweihnachtsfeiern eingeladen und dadurch diese Familientradition begründet haben.

Begegnungen im virtuellen Raum

In Kontakt bleiben, auch wenn persönliche Treffen nicht erlaubt oder aus anderen Gründen unmöglich sind: In der Pandemiezeit, in der persönliche Treffen, auch durch die Entfernung, unmöglich waren, trafen sich einige von uns monatlich im virtuellen Raum. Für diese Treffen hatten wir abwechselnd ein Tagesthema mit für uns hilfreichen Fragen vorbereitet.

Beispiele für Impulsfragen: 

Wofür bin ich meiner Mutter / meinem Vater dankbar?

Wie habe ich meine Mutter / meinen Vater wahrgenommen?

Was war hilfreich daran, dass wir den Kontakt zwischen uns Geschwistern nie verloren haben?

Wie war ich als Kind, wie haben mich meine Geschwister wahrgenommen?

Welche Lieder, Speisen, Spiele etc. gab es in unsere Familie?

Noch ein paar Tipps zum Abschluss:

Konzentration auf positive, stärkende Themenbereiche. Vermeidung von politischen oder anderen schwierigen Themen und eine wertschätzende Haltung, getragen von ehrlichem Interesse aneinander sind hilfreich, wenn wir einander begegnen wollen.


Günther Walch 
Männergruppenbegleiter, Imago Professional Facilitator, Trainer für Biografiearbeit, Wegbegleiter für Selbsthilfegruppen
Innsbruck
https://www.beziehungsentwicklung.at

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